15. Mai 2015 – 15. Mai 2020 – Erinnerung an ein Gesicht der Stadt –

Stefan Weber und Veronika Leonhardt

An einem warmen Sommerabend im Jahre 1970 saß Stefan Weber nach einer Chorprobe in der Schlosskirche mit dem Kantor noch auf ein Pils in einem nahen Biergarten, als er im Kirchturm Licht erspähte. Er fragte, ob dort oben wohl noch jemand wohne. Die Antwort lautete: „Nein, aber wenn Du willst, kannst Du sofort einziehen…“ Und der damals 28-Jährige wollte! Von Kindesbeinen an liebte er nicht nur alte Kirchen, sondern Chemnitz samt Geschichte. So kam die Stadt plötzlich wieder zu einem Türmer, eine Tradition, die hier immerhin seit 1488 überliefert ist.

Der gelernte Maschinenbauer baute sich die 60 Quadratmeter große Türmerwohnung aus und mußte jedes Möbelteil über eine enge Wendeltreppe 130 Stufen hinauf buckeln. Die Miete wurde bis zur Wende mit Arbeitsleistungen verrechnet – dem Aufziehen der Turmuhr und dem Läuten der Glocken vor den Gottesdiensten. Die Unannehmlichkeiten nahm er dafür gern in Kauf. Die Wohnung besaß kein Bad und war durch das ungedämmte Gemäuer im Winter ziehmlich kalt. So wohnte Stefan Weber mehr als 35 Jahr im wertvollsten Baudenkmal von Chemnitz, nicht ganz allein – lange Zeit mit Kater Kasimir.

Ende der 80er-Jahre gesellte sich zum Wohnturm noch ein Dienstturm hinzu – der Hohe Turm der Stadtkirche St. Jacobi, traditioneller Türmersitz der Stadt. Ab 1846 war die Türmerstube leer geblieben. Sie wieder zu füllen, sei ein langer Weg gewesen, räumte Stefan Weber ein. Nach anfänglichen Probeauftritten und Rufen über die Stadt wurde das Hobby zum Beruf – einzigartig in einer deutschen Großstadt. Traditionell nutzte er eine nostalgische „Flüstertüte“ und hielt sich im Inhalt und Anlass seiner Verkündigungen streng an historische Vorgaben, so begann jeder Ruf mit: „Hört ihr Leut und lasst euch sagen…“ Am 1. März 1991 begann seine Tätigkeit als hauptamtlich bestellter Türmer von Chemnitz.

Im historischen Gewand führte er schätzungsweise 200.000 Gäste durch die Stadt und ihr Rathaus – Einheimische und Touristen aus allen deutschen Landstrichen, aus europäischen Ländern und von anderen Kontinenten. Am 17. September 2007 feierte er seinen 65. Geburtstag. Das Renteneintrittsalter hielt ihn jedoch nicht ab, weiter Gäste durch das Rathaus zu begleiten und ihnen vom Turm aus die Vorzüge seiner Heimatstadt zu schildern. Diesen nunmehr ehrenamtlichen Einsatz ehrte die Stadt im Herbst 2010 im Rahmen eines Festaktes für Ehrenamtler. Stefan Weber wirkte an mehreren Buchveröffentlichungen zu Chemnitz mit und war in seiner Freizeit ein begeisterter Maler.

Seine Motive, die meist Chemnitz zeigen, sind im Ratskeller des Neuen Rathauses und im Restaurant „Miramar“ auf dem Schlossberg zu sehen. Er war das Gesicht der Stadt – eine Institution, ein Markenzeichen und ein geschätzter Werbeträger. Kaum ein anderer wurde so häufig fotografiert und gefilmt wie der Türmer. Zudem war der Mann mit dem schwarzen Hut ein gefragter Referent. Stefan Weber brachte es auf 300 Vorträge zur Stadtgeschichte. Auch in der Europäischen Nachtwächter- und Türmerzunft schrieb er Geschichte, war ein herausragender Botschafter der Stadt und organisierte 2003 maßgeblich das 18. Europäische Nachtwächter- und Türmertreffen und 2011 das Türmertreffen in Chemnitz – das erste Mal im Osten Deutschlands. Der Beruf war ihm Berufung: Sein Ruf „Hört Ihr Leut‘ und lasst Euch sagen…“ vom Turm über dem Markt ist unvergessen. So wie auch die Person Stefan Weber für immer sichtbar bleiben wird – sein Gesicht ist im figürlichen Glockenspiel am Rathaus verewigt.

Am 17. September 2012 feierte der langjährige Chemnitzer Türmer Stefan Weber seinen 70. Geburtstag. Aus diesem Anlass verlieh die Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig dem Jubilar für sein langjähriges Wirken in Chemnitz am 28. September 2012 den Ehrenpreis der Stadt Chemnitz. Zudem trug sich Stefan Weber in das Goldene Buch der Stadt ein. Die Laudatio für ihn hielt der Leiter des Schlossbergmuseums Chemnitz, Uwe Fiedler. Dem Festakt wohnten, neben der Stadtspitze, auch Vertreter aus Politik und Gesellschaft sowie deutsche und internationale Zunftkollegen bei. Schon als Jugendlicher hatte er sich intensiv mit der Stadtgeschichte beschäftigt, sammelte Bilder und Dokumente.

Jahrzehnte später stellte er uneigennützig auch historisch wertvolle Dokumente aus seinem persönlichen Besitz der Öffentlichkeit zur Verfügung. Die Geschichte der Stadt an kommende Generationen weitergeben – das war sein Credo. Mit Stefan Weber verloren wir einen der großartigsten, leidenschaftlichsten Botschafter für unsere Stadt der wie kein anderer seine Zuhörer mit Geschichten und Anekdoten in den Bann ziehen konnte. Chemnitz war sein Leben.

Ich hatte das große Glück, mit Stefan Weber gemeinsam eine Wegstrecke gehen zu dürfen. Dazu gehörten gemeinsam konzipierte Stadtführungen, wie beliebte „Drei-Türme-Tour“. Für große Aufmerksamtkeit sorgten die Auftritte als Skt. Nicolaus und Chemnitzer Weihnachtsengel in der Adventszeit.

Bereits im Jahre 2011, zum 100-jährigen Jubiläum des Neuen Chemnitzer Rathauses, gab es seitens des engagierten Türmers Bestrebungen zur Wiederanbringung der beiden Supraporten im Ratssaal: „DES RATES BLICK IST DER STADT GESCHICK“ und „GEWAEHRENUND VERSAGEN BEIDES VON LIEBE GETRAGEN“.
Diese Detailergänzung wurde auf Grund der damals anstehenden großen Projekte „Restaurierung Stadtverordnetensaal“ verschoben. Die Bestrebungen wurden im Anschluss von Stefan Weber und mir weitergeführt. Leider konnte das Ziel nicht mehr gemeinsam weiter verfolgt werden. In seinem Sinne führe ich dieses Projekt weiter – nunmehr mit der Unterstützung des Vereins der Gästeführer Chemnitz e.V.

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